Ich finde dieses Thema sehr interessant und auch die Fragestellung sehr reizvoll gewählt. Ich liebe das Album sehr und es gehört zu meinen Favoriten von ABBA. Meist fällt es mir sehr schwer, zwischen Super Trouper und The Visitors als meinem Favoriten zu wählen. Super Trouper war ausgeglichen und in vielerlei Hinsicht perfekt zusammengestellt, mehr oder weniger ein Werk aus einem Guss. The Visitors ist ambivalent in vielerlei Hinsicht. ABBA wurden hier experimentierfreudiger als je zuvor... aber auch dunkler als je zuvor. Das Album läuft bei mir daher auch viel mehr im Winter, in der dunklen Jahreszeit und um Weihnachten herum, da ich Weihnachten neben dem Familienfest auch immer mit etwas Melancholie verbinde.
Ich lege mich im Vorfeld schon einmal in soweit fest, als dass ich sage, dass es ein Meisterwerk ist. Zu meiner Begründung dafür komme ich gleich noch.
Vorab muss ich voranstellen, dass ich vielleicht eine besondere Einstellung zu dem Album entwickelt habe in dem Zusammenhang, dass das Album das (Stand Juli 2020) letzte ABBA-Album ist, das die Gruppe zusammen als aktive Einheit veröffentlicht hat. Die Wahrnehmung der LP wäre wahrscheinlich eine andere, hätte es 1982 anstelle der Compilation The Singles The First Ten Years ein neues Album gegeben, oder 1983, mit den Titeln, die wir kennen: Just Like That, I Am The City, Under Attack, The Day Before You Came... vielleicht weitere Titel, die wir nie kennenlernen können... Another You, Another Me... das muss man dabei berücksichtigen.
Ich sage das aus der Wahrnehmung heraus, 1992 erst geboren worden zu sein und diese Endzeitstimmung Anfang der 80er gar nicht mitbekommen zu haben.
Trotzdem ist das Album insgesamt von Melancholie geprägt. Der gewollte Witz bei Head Over Heels kommt nicht authentisch rüber.
Stilistisch sind ABBA in einigen Bereichen auf diesem Album neue Wege gegangen... nie gab es so viele Solo-Parts für Frida und Agnetha, deren gemeinsamer
Gesang ein garantierter Erfolgsfaktor für ABBA und ein wesentliches Element ihrer Musik war. Frida singt hier erstmals einen Titel ganz alleine. Agnetha wird für mein Empfinden auf einem Titel noch persönlicher, als bei The Winner Takes It All. Bzw. die Darbietung ist deutlich persönlicher. ABBA werden hier politischer, als auf jeder anderen LP... und sie trauen sich Dinge, die sie vorher nicht gemacht haben, wie beim Titelsong und dem Eröffnungslied der B-Seite.
Eine Stück-für-Stück-Analyse:TheVisitors: Die Schwingungen beim Intro sind weit entfernt von
Gitarrenklängen aus When I Kissed The Teacher oder dem Intro von Mamma
Mia... hier kommt eine mystische Stimmung, die durch einen Vocoder oder
Stimmenverzerrer und Fridas Strophen die Nackenhaare hoch stehen lassen.
Der Text ist verklausuliert und doch politisch und ich denke beim Hören
immer an die Protagonistin in dem Raum, die auf diese Leute wartet, die
sie holen sollen. Der Refrain bricht wieder ab und wird dynamisch.
Interessant arrangiert und Anfang der 80er sicherlich auch sehr dem
Zeitgeist angemessen.
Head Over Heels: Der
Vorbau zum Refrain, bei dem Frida und Agnetha gemeinsam bis zum Head
Over Heels singen, ist melodisch. Das Lied an sich ist es auch. Es ist
vielleicht einfach die Aufnahme, die nicht richtig gezündet hat. Es
waren die ersten digitalen Aufnahmen der Gruppe, vielleicht ist dabei
auch etwas der ohnehin bei diesen Sessions schon raren Wärme verloren
gegangen. Der Witz dieses Liedes und die Ironie des Inhalts kommen hier
nicht so richtig rüber, schon gar nicht im Gesamteindruck des Albums und
der anderen Songs. Im Video spielt Frida die Frau von Björn... ABBA
werden hier selbst zu schauspielern, wobei man sonst immer die Paare
kannte... das passt alles irgendwie nicht so richtig.
When
All Is Said And Done... wird hier viel kritisiert aufgund des
Arrangements... ich glaube, dass Benny heute ebenfalls eurer Meinung
ist. Er hat für Mamma Mia das Lied in eine ruhige Ballade umarrangiert,
dies aber auch schon vorher gemacht, auf dem Album "Funky ABBA" von Nils
Landgren und beim Auftritt im Hyde Park mit Kylie Minogue. Frida war
damals unglücklich und zerrissen und hat die Aufnahme, die abgemischt
wurde, mit dieser Stimmung eingesungen. Es gibt da eine Demo, bei der
die erste Strophe am Ende noch einmal gesungen wird. Ich finde, auf
dieser Demo ist all der Trotz zu hören, als sie diese dritte Strofe
sang. Sie hat kraftvoll ihre Gefühle in dem Gesang ausgedrückt und die
Flucht nach vorne angetreten, anstelle einer ruhigen balladesken
Interpretation. Es ist wirklich schade, dass in der Gruppe damals
niemand für so ein Arrangement ein Veto eingelegt hat, das hätte dem
Lied sicher gut getan. So wurde daraus eine Power-Nummer mit rennenden
Instrumenten, die vielleicht auch als Gegenpol zu den bereits
vorhandenen, ruhiger arrangierten Titeln auf der LP gewählt wurde. Auch
wenn Du sagst, es war kein internationaler Single-Kandidat, Scotty,
glaube ich, dass zu der Zeit das Lied bessere Chancen gehabt hätte, als
Head Over Heels. Beweisen kann ich das natürlich nicht und es mag
aufgrund einer gruppeninternen Entscheidung so gewesen sein, dennoch
sehe ich den Titel, die Melodie und den Gesang viel weiter vorne auf dem
Album. Dies wäre ein Lied, das ABBA gerne heute noch einmal in der
alternativen Balladen-Version aufnehmen können.
Soldiers:
Die Stärken des Titels und die Ambivalenz sind von Scotty perfekt
beschrieben worden und bilden meine Meinung 1:1 nach. Ich kann dazu
nichts Abweichendes hinzufügen.
I Let The Music
Speak: Ist ein gewagter Titel für ein Pop-Album und ein Beweis, dass
ABBA hier das Pop-Spektrum verlassen haben. Ja, diesen Titel hätten sie
auch für Chess aufbewahren können. Aber er ist ungewöhnlich und ich wäre
gerne im Studio gewesen, als das Konzept musikalisch umgesetzt wurde
und die 4 ihre Meinungen dazu ausgetauscht haben.
One
Of Us: Ist ABBA in Reinform. Klare Wahl für die Single, toller Gesang,
super Basslinie. Hier sind ABBA meiner Meinung nach näher an ihrer
Essenz, als in jedem anderen Titel auf dem Album, näher an früheren
Zeiten, auch wenn dieses Lied ebenfalls sehr traurig ist. Der Gesang ist
viel gefühlvoller, als beispielsweise bei Head Over Heels.
Two
For The Price Of One: Diesen Titel würden wir alle wahrscheinlich
besser bewerten, hätte statt Björn eine der beiden Ladies gesungen, oder
am Besten beide. Allerdings gibt es hier interessante Passagen und
Aspekte. Im Refrain singen Agnetha und Frida eine Melodielinie, deren
Tempo deutlich vom Hauptgesang abweicht. Ich finde, dass hier schon mehr
drinsteckt, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Und das Ende ist
nicht weniger verspielt als das Ende von Chiquitita oder Passagen in
Arrival, oder Intermezzo No. 1. Die Melodie hätte vielleicht einen
anderen Text gebraucht, dann wäre der Titel auch anders in Erinnerung
geblieben.
Slipping Through My Fingers: Ist der
persönlichste ABBA-Ttel überhaupt und geht mir tatsächlich näher, als
The Winner Takes It All. Ich habe das Lied wohl so mit 12 oder 13 das
erste Mal gehört und jetzt mit 28 bewerte ich es bereits anders und kann
dieses Empfinden nach der viel zu schnell verstrichenen Zeit
nachempfinden. Wenn Agnetha diesen Titel bei Dick Cavett live singt,
bleibt die Zeit stehen und die Welt ist still... ein absoluter Favorit.
Like
An Angel Passing Through My Room habe ich nie so düster wahrgenommen,
wie Du, Scotty. Ich habe Deine Sichtweise in diversen Threads dazu
gelesen und kann sie auch bedingt nachvollziehen, aber mein erster
Eindruck war das beim Hören nicht. Ich nehme da eine Ruhe, einen
Seelenfrieden wahr. Jemand ist in einer Art Dämmerzustand und die
Stimmung ist so verwoben, dass man wohl wirklich Engel im Raum fühlt...
ob das aber die Engel für das letzte Geleit sind, oder einfach Boten für
Frieden, bleibt eigentlich offen. Das Text-Konzept "Another Morning
Without You" wäre auch interessant als Alternative gewesen. Das wurde
inhatlich ja dann in The Day Before You Came in anderer Art aufgegriffen
und auch bei Just Like That. Irgendwie war Björn als Texter zu der Zeit
wohl sehr von dem Thema eingenommen, dass das Treffen einer bestimmten
Person einen Wendepunkt auf das Leben der beteiligten Person haben kann.
Während
der Sessions zum Album wurde noch die Melodie "Givin A Little Bit More"
komponiert, aber nur als Demo aufgenommen. Das ist schade, denn die
Melodie ist stark und hätte, wie auch Carl Magnus Palm dazu schrieb, dem
Album etwas Frohsinn verleihen können, der wohl bitter nötig gewesen
wäre. Diese Melodie ist positiv und der Text wäre es wohl auch geworden,
ein Wendepunkt zur Melancholie auf all den anderen Titeln.ABBA
waren hier an einem Wendepunkt und haben diesen und die Stimmung in der
Gruppe zu diesem Zeitpunkt eingefangen. Die Aufnahmen waren teilweise
viel reflektierter (Soldiers, Slipping Through My FIngers), gewagter und
ambitionierter (The Visitors, I Let The Music Speak) und man hatte den
Eindruck, dass sich alle 4 Protagonisten im Vergleich zu der Spaß-Truppe
aus ABBA-dabba-doo deutlich verändert und weiterentwickelt hatten...
ich glaube, durch die persönlichen Umstände wurde auch die Arbeit im
Studio schwieriger für die Gruppendynamik. Bis auf die genannte Demo ist
mir kein Material bekannt, dass aus den Sessions nicht umgesetzt wurde.
Kein Vergleich zu Voulez-Vous Zeiten. Kein Wunder, dass sich alle
parallel in dieser Situation nach anderen Projekten umsahen. Trotzdem
haben sie zu der Zeit ein sehr fortschrittliches Album geschaffen, dass
schon einen Fingerzeig für das neue Jahrzehnt gab... das aber immer auch
im Kontext als letztes ABBA-Album gesehen werden muss und das daher so
oder so einen besonderen Stellenwert hat.