Guten Morgen an alle und Danke zunächst an Scotty, für die Eröffnung dieses Themas.
Die aktuellen Zeiten greifen so tief und umfangreich in das Leben ein und die Lage der Welt, da bleibt anscheinend kein Feld verschont. Sportler dürfen nicht an Wettbewerben teilnehmen, obwohl sie nicht für die politischen Aussagen ihrer politischen Führung verantwortlich sind. Das ist mir in den letzten Wochen schon an einigen anderen Stellen aufgefallen, egal ob Fußball, Tennis... es geht so weiter. Ich finde, dass es am Wichtigsten ist, dass man diese ganzen betroffenen Menschen erstmal aus einer anderen Richtung betrachtet... das sind Menschen. Beim Sport sind es eben Schwimmer, Bobfahrer, Tennisspieler. Diese Menschen treten in dem jeweiligen Kontext einer Berufung oder Leidenschaft an und die definiert sie in diesem Moment meiner Meinung nach auch. Nicht als Vertreter ihrer Nation, sondern als Vertreter ihrer Leidenschaft nehmen sie dabei an dem jeweiligen Wettbewerb teil und sie können selbst überhaupt nichts für die Aussagen und Handlungen, die ihre politische Führung für sie als Stellvertreter tätigt. Der Ausschluss dieser Menschen einzig aufgrund ihrer Nationalität, um das politische System zu treffen, ist meiner Meinung nach zu allererst symbolischer Art und trägt wohl kaum zur Lösung der Probleme bei. Dafür muss man miteinander Reden und den Austausch der Kulturen fördern, oder aber so stark sein, dass man sich auch wirklich traut, ggf. auf Gas und Öl zu verzichten, um die Einnahmen, die für die Finanzierung des Krieges braucht, wirklich versiegen zu lassen. Wir dürfen aber bitte vor allem nicht vergessen, dass es nicht alle Russen sind, die diesen Krieg wollten und damit ein Ausgrenzungsmerkmal schaffen, mit dem wir Menschen stigmatisieren. Das ist leider in der Vergangenheit immer wieder zum Verhängnis der Menschheit geworden. Ich sage damit nicht, dass das hier im Forum jemand macht, wollte es nur allgemein an meinen Beitrag voranstellen. Eigentlich sind wir kein politisches Forum, aber ich glaube, aktuell keine Haltung oder Meinung einzunehmen ist auch eine Form von Haltung oder Meinung und ruhig bleiben kann man in der gegenwärtigen Lage schon lange nicht mehr.
Wie kann man nun den Bogen zum ESC spannen.... auch hier möchte ich einmal voranstellen, dass der ESC in seiner Idee eine wunderbare Veranstaltung ist. Viele verschiedene Kulturen und Künstler mit ihren musikalischen Stilen zusammenzubringen und einen Wettbewerb zu veranstalten ist eine tolle von wenigen Möglichkeiten, eine Art von europäischem WIR-Gefühl zu schaffen, bei der Menschen unterschiedlichster Sprache und Kultur eine Plattform haben, um zusammenzukommen und positive Erlebnisse zu schaffen, die verbinden. Dabei finde ich es auch vollkommen in Ordnung, wenn inzwischen Länder eingebunden werden, die geografisch nicht zu Europa gehören, die aber aus Begeisterung an dem Wettbewerb teilnehmen wie Australien. Von deren Begeisterung hat der Wettbewerb in den letzten Jahren stark profitiert, auch wenn die Chancen auf einen Sieg damit immer unwahrscheinlicher werden für die alten Gründungsländer. Damit sind wir aber auch an einem weiteren Kritikpunkt, der Entwicklung des Contests in den letzten sagen wir 10 Jahren. Wie Charly schon herausgestellt hat in seinem Beitrag, gibt es zunehmend eine Polarisierung unter den Liedern bzw. vor allem unter den Siegertiteln und das hängt aus meiner Sicht damit zusammen, dass sich bestimmte Gruppen ausschließlich auf ein Merkmal begrenzen, dass sie identitätsstiftend verwenden, um sich damit öffentlich in einer Form von Opferrolle zu präsentieren. Das ist nicht abwertend gemeint, sondern diese Meinung beruht auf der Lektüre eines Buches des Wirtschaftswissenschaftlers und Ökonomen Paul Collier "Sozialer Kapitalismus", der in seinem Buch wirklich gut beschreibt, warum der soziale Zusammenhalt in Gesellschaften nach und nach zersplittert und wie unsere aktuellen sozio-kulturellen und ethisch-politischen Rahmenbedingungen diesen Verfall begünstigen. In dem Zusammenhang wird genau dieses Thema des Abgrenzungsmerkmals von bestimmten Opfer-Gruppen sehr stark betont.
Mein Zwischenfazit daraus ist, dass leider die Musik inzwischen nicht mehr ausschlaggebend ist, sondern der ESC für viele andere Dinge verwendet wird, seien es politische, nationalistisch-motivierte, oder prestigeträchtige sonstige Gründe.
Ich habe mir den Beitrag der Ukraine für dieses Jahr angehört und er hat für mich keinen bleibenden Eindruck hinterlassen bzw. trifft er auch nicht meinen Geschmack. Ich gehe aber ähnlich wie die Meisten hier davon aus, dass er aufgrund der aktuellen Lage von vielen die Stimme erhalten wird. Meiner Meinung nach muss man das bei den Veranstaltern vorhersehen und hätte das im Vorfeld dringend mit dem Land abstimmen müssen. Eventuell wäre es sinnvoller gewesen, hier in der Zeit während der Abstimmung einen Gast-Beitrag laufen zu lassen, damit der Titel außer Konkurrenz mitlaufen kann. Interessant wäre es sicherlich auch, einmal zu sehen, wie die Lieder bewertet werden, wenn die zugehörigen Nationen nicht dazu geschrieben werden und ohne ein Video zu sehen, weil man dann wirklich nur die Musik beurteilen würde, um die es eigentlich geht.
Übrigens gibt es meiner persönlichen Meinung nach auch in den letzten Jahren noch sehr gute musikalische Beiträge beim ESC - Hier einmal eine Auswahl:
ESC 2015 Polina Gagarina - A Million Voices: Polina Gagarina - A Million Voices (Russia) - LIVE at Eurovision 2015: Semi-Final 1 - YouTube
ESC 2012 Engelbert Humperdinck - Only Love Will Set You Free Engelbert Humperdinck - Love Will Set You Free (United Kingdom) 2012 Eurovision Song Contest - YouTube
ESC 2018 Ryan O' Shaughnessy - Together: Ryan O’Shaughnessy - Together - Ireland - LIVE - Grand Final - Eurovision 2018 - YouTube
Und für 2022? Nun, ich habe bislang nur den deutschen Beitrag gesehen und jetzt den der Ukraine und muss mich mit anderen Beiträgen noch mehr beschäftigen, um einen Favoriten auszuwählen. Ich bin aber der Ansicht, dass es auch unter den deutschen Beiträgen der Vorauswahl mindestens 2 gute Stücke gab, die es leider nicht geschafft haben und die ich hier gerne verlinken möchte:
Maël & Jonas - I swear to god [Official Video] - YouTube Ein melodisches Lied, Künstler mit Leidenschaft - alles was ein Lied braucht
Nico Suave & Team Liebe - "Hallo Welt" | ESC Vorentscheid 2022 | Germany 12 Points | NDR - YouTube Hätte mir auch aufgrund der Sprache gut gefallen und ich finde, diese Gruppe harmoniert live sehr gut zusammen.
Warten wir ab, was sich dieses Jahr ergibt. Danke auf jeden Fall für das Thema und den interessanten Austausch hier.