Lied 10. Das letzte Lied. Auf dem wahrscheinlich letzten Album von ABBA, der BEPOGRALZ (Besten Popgruppe aller Zeiten). Was können wir hier erwarten? Hier muß eigentlich ein Vermächtnis kommen, etwas für die Ewigkeit. Schauen wir mal.
Der Titel: „Ode to Freedom“. Ode, Lobgesang, Hymne an die Freiheit. Oh je, da haben sie sich etwas vorgenommen. Darüber haben Philosophen jeder Couleur ganze Bücher geschrieben, und ABBA wollen das in einem Lied von 3:30 Minuten abhandeln.
Also los. Getragene Streichermelodie – hey, das kenne ich! Tschaikowsky, Schwanensee! ABBA wildern in ihrem letzten Lied in klassischen Gefilden?? Okay, wird also was Schönes, Harmonisches, Belangloses zum Mitschunkeln. Moment – warum bin ich jetzt aus dem Takt? Los, nochmal – schon wieder? Habe ich jetzt den Walzertakt verlernt? Oder was machen ABBA hier?
Freiheit und Lieder darüber – ABBA begeben sich da in vermintes Gelände; aber sie sehen alle Fallen, weichen ihnen aus, machen uns darauf aufmerksam und stellen ein paar eigene dazu.
Wenn ich mein Lied der Freiheit singe – so ABBA-, dann muß die Sprache mich schon mal ansprechen, würdevoll, aber klar und nicht hochgestochen. Wenn ich abgehobenen Schwurbel singe, hört keiner zu. Das sagen sie in der ersten Strophe.
Die zweite Strophe: Wenn ich mein Lied der Freiheit singe – ich, dem alle Türen offenstehen -, dann wirst du womöglich ein skeptisches Gesicht machen, was ich hier zu meiner Sache mache. Freiheit ist etwas Flüchtiges, schwer zu erhaschen, schwer festzuhalten – daher gibt es kein allgemeingültiges Lied auf die Freiheit, das im Kopf zu behalten sich lohnt. Jemand sollte so was mal schreiben.
Und B+B setzten sich hin, um das Unmögliche zu versuchen und ein solches Lied an die Freiheit zu schreiben. Und das machen sie eben nicht auf die billige Tour, sondern sie geben uns eine Botschaft auf den Weg:
Wenn du von Freiheit redest, mußt du in der Sprache der Leute reden, mit denen du sprichst, sonst schalten alle ab. Und Freiheit ist schwer greifbar, sie bedeutet für jeden etwas Anderes. Bevor du Leuten was von Freiheit erzählst, denke nach, was Freiheit für diese Menschen bedeutet.
Die Musik illustriert das vollkommen. Nur scheinbar trügerisch einfach, ist sie voller Fallstricke, wirft uns, wenn wir nicht gut vorbereitet sind, bei jeder Kurve aus der Bahn. Ich (musikalisch, aber kein Experte) habe mehrere Wochen gebraucht, um halbwegs durchzusteigen. Ich habe das erste Blatt eines inoffiziellen Notendrucks gesehen, wo der Hauptrhythmus als 4/4 bezeichnet wird, aber das trifft es nicht.
Die Melodie beginnt in einem Achtertakt (8/8 oder 8/4), wobei diese Takte nicht wie üblich in Vierergruppen geteilt sind; sondern die vierte und fünfte Note sind meist übergebunden, unterstützt durch die Begleitung entsteht so ein 3+3+2-Takt (darum kommt man sofort ins Schlingern, wenn man das als Walzer ansieht). Die Tatsache, daß die Gesangseinsätze meist auf den zweiten Schlag erfolgen, macht es nicht einfacher. Diese Achtertakte wechseln sich ab mit Sechsertakten, die 3+3 oder 2+2+2 gegliedert sein können; gegen Ende jeder Strophe kommen dann noch Achtertakte in 2+3+3-Gliederung. Alles klar? Die Melodie ist wunderschön, aber mit dem Rhythmus muß man einen zähen Ringkampf führen, bis man ihn bezwungen hat. Erst wenn man sich lange genug darauf eingelassen hat und allen (Denk-) Fallen aus dem Weg gegangen ist, kann man sich lohnend wirklich mit der Freiheit beschäftigen. Das ist die Botschaft, die Text und Musik mir geben.
Laß einen modernen Komponisten diese Botschaft in Musik fassen, und es wird mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas grausig Verkopftes herauskommen, das aller eben geforderter Einfachheit Hohn spricht. Und was machen ABBA daraus? Eine wunderschöne, zeitlose, fließende, ja schwebende Melodie, denkbar unaufgeregt und unangestrengt in der bequemen Mittellage gesungen, die meinen Geist so frei schweben läßt wie die Musik selbst schwebt. Das hat sie mit dem zweiten klassichen Freiheitsgesang gemein, das hier anklingt: „Va pensiero sull‘ ali dorate“, dem Gefangenenchor aus Verdis Oper „Nabucco“. Das ist eine Musik, die ähnlich schweben läßt - „flying high, high, like a bird in the sky, like an eagle that rides on the breeze. High, high, what a feeling to fly over mountains and forests and seas, and to go anywhere that I please“ - ja, ABBA haben schon mal ein großartiges Lied auf die Freiheit gesungen.
Mich erinnert dieses Lied an eine Filmszene: Am Ende des letzten Teils des „Herrn der Ringe“ machen sich die Elben mit Gandalf und Frodo auf die Reise zu den unsterblichen Landen westlich des Meeres. Damit verbindet sich für mich diese Musik, genau so episch geht hier etwas Großes zu Ende. Mit einem Meisterwerk, das musikalische Grenzen übergreift, verabschieden sich ABBA und machen sich auf die große Schiffsreise – englisch „Voyage“.